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Strahlenrisiko und die Medien

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Das Strahlensrisiko und die Medien
von Prof. Klaus Becker, 2004

Wie alle Jahre wieder wurde in den deutschen Medien am 26.04.04 der Tschernobyl-Gedenktag begangen. Schon in den Morgennachrichten des Deutschlandfunks war zu hören, dass “bisher etwa 30.000 Strahlentote zu beklagen sind“ - obwohl die tatsächliche Zahl nach Meinung aller kompetenten Fachleute bei einer Zahl von knapp 40 (einschließlich inzwischen 5 Fällen durch Schilddrüsenkrebs) liegt. Gerade wieder ergab eine gründliche Studie zur Erhöhung der Krebsrate unter den “Liquidatoren“ keinerlei Hinweise auf eine solche Erhöhung (1). Für die Leukämie hatten bekanntlich A. Kellerer et al. schon vor Jahren keinen nachweisbaren Tschernobyleffekt belegt. Trotzdem scheint sich inzwischen die Zahl 30.000 in den deutschen Medien als “Kompromisswert“ zwischen den gleichermaßen unsinnigen “Schätzungen“ von 10.000 bis über 100.000 eingebürgert zu haben.

Mit ähnlichem Wahrheitsgehalt werden in gebetsmühlenhafter Regelmäßigkeit die Gesundheitsrisiken durch Kernkraftwerke, Castortransporte, Endlagerung, häusliches Radon, Höhenstrahlen beim Fliegen usw. beschworen, gelegentlich angereichert durch eher temporäre Modeerscheinungen wie Strahlenmolke, Castor-Oberflächenkontaminationen, Plutoniumpartikel in Hanau, Radium im Mineralwasser, Depleted-U im Kosovo, oder angebliche Leukämie-Cluster in der Elbmarsch. Die Stimmen der Vernunft kommen allenfalls durch seltene Leserbriefe in einer seriösen Zeitung und noch seltenere redaktionelle Beiträge zu Wort. Als Beispiel für redlichen Journalismus auf diesem Gebiet kann man u.a. den Umweltredakteur (und Winnacker-Preisträger) Martin Irion nennen, der am 04.06.1989 ein 40-minütiges Interview im RIAS mit dem FS-Ehrenmitglied Werner Schüttmann über Tschernobyl, die Wirkung kleiner Strahlendosen, Radon etc. sendete (2).

Gesinnungsjournalismus: Fakten vs. veröffentlichte Meinung
Der Strahlenfachmann nimmt die extreme Divergenz zwischen Fakten und veröffentlichter Meinung (die laut Umfrageergebnissen nicht immer mit der tatsächlichen öffentlichen Meinung identisch ist) je nach Temperament und Stimmungslage amüsiert oder verärgert zur Kenntnis. Reklamationen bei den zuständigen Redaktionen sind praktisch immer erfolglos. Doch was sind die Ursachen für diesen Stand der Dinge, an dem sich offensichtlich in den letzen 2-3 Jahrzehnten kaum etwas geändert hat? Dieser Frage wird nicht nur in vielen Diskussionen im kleineren Kreis, sondern zunehmend auch auf gut lesbare Weise in einigen neuen deutschen Büchern nachgegangen (Abb. 1: Umschlagseiten von drei besonders empfehlenswerten Büchern – vgl. Literaturhinweise).

Um hier nur einige Beispiele zu nennen: 1996 erschien das Buch des bekannten internationalen Publizisten Burkhardt Müller-Ullrich “Medienmärchen – Gesinnungstäter im Journalismus“ (3). Besonders interessant ist das Kapitel “Tschernobyl – der Mediengau“ (S. 35-49) – übrigens hatte Wolf Häfele den Unfall an anderer Stelle als “Gau in den Köpfen“ bezeichnet. Hier nur einige Zitate von Müller-Ullrich: “Gott hielt sich bei der Erschaffung der Welt nicht an die Empfehlungen der ICRP... Nach einem Vierteljahrhundert soziologisch zugerichteter Wissenschaftskritik in Deutschland sind Repräsentanten der naturwissenschaftlichen und technischen Forschung in der öffentlichen Meinung zu Generalverdächtigten geworden...“Er kommt zu der Folgerung, gelogen werde aus Geldgier, Dummheit, und ideologischer Verbohrtheit – meist in Kombination. So weist er an einem Beispiel (S. 46-49) detailliert nach, dass es sich bei dem Foto eines “Tschernobyl-Fötus“, welches u.a. in einer Fernsehsendung von Alexander Kluge und im SZ-Magazin doppelseitig publiziert wurde, um eine Fälschung handelte. Und wir wissen um die Macht von Bildern, besonders in Teilen der Bevölkerung, die weniger zum Lesen neigen....

Im folgenden Jahr erschien ein Buch von Heinz Hug “Der tägliche Ökohorror“ (4). Für Strahlenschützer von Interesse sind besonders die in dem Teil „In der Öko-Geisterbahn“ zu findenden, gut dokumentierten Kapitel „Bequerel, Sievert & Co“, “Der Plutonium-Teufel“, „Das Gau-Festival“, und „Warum Biblis nicht in der Ukraine liegt“ (S. 250-269). Auch für den Laien gut nachvollziehbar sind einige Beispiele: In einem 500 m²-Grundstück sind bei durchschnittlicher Bodenzusammensetzung in der oberen Schicht von 1 m Dicke u.a. 2 kg Uran und 6 kg Thorium enthalten.

Umwelt und Risiko
Ein anderes Buch aus dieser Zeit (5) ist von besonderem Interesse, weil es von ausgewiesenen Umwelt-Journalisten verfasst wurde, nämlich den langjährigen Herausgebern bzw. Redakteuren der Umweltzeitschriften „Chancen“ und “Natur“, Dirk Maxeiner und Michael Miersch. Auch hier kommen Strahlungsthemen vor wie eine anschauliche Schilderung der Strahlenmolke-Eulenspiegelei, stehen aber nicht im Mittelpunkt des Buches. Das Plädoyer der Autoren ist vielmehr, die ökologische Debatte mit mehr Pragmatismus zu führen. Anhand vieler Fallbeispiele wird nachgewiesen, “wie sentimentaler Eigendünkel und die Gefühlslogik der Medien zu Resultaten reiner Unvernunft führen“. Bedenkenswert ist ebenfalls die dort zitierte Aussage des damaligen Bundesverwaltungsgerichts-Präsidenten Eberhardt Franßen auf einer Tagung für Umweltrecht: “Ordnet man die Risiken nach ihrer Wahrnehmung ein, so erhält man in Bezug auf das tatsächliche Risiko eine auf den Kopf gestellte Pyramide. Je kleiner das Risiko, umso intensiver muss es bekämpft werden.“

Das damit angesprochene Thema Risiko-Perzeption kann hier nicht vertieft werden - einschließlich der Frage, warum so viele Größenordnungen zwischen der Akzeptanz selbst verursachter oder kostspielig gesuchter Risiken wie ungesunder Lebensweise und Extremsport einerseits, und (echten oder medienverursachten) exogenen Gesundheitsrisiken andererseits liegen. Wer denkt da nicht an die Kettenraucher, die sich vor vorbeifahrenden Castor-Transporten und dem Radon im Keller fürchten. Auf diese und viele andere relevante Fragen geht ein ausgezeichnetes neues Buch “Die Panik-Macher“ näher ein, das in Zusammenarbeit zwischen Walter Krämer, Wirtschafts- und Sozialstatistiker, und dem dpa-Wissenschaftsredakteur Gerald Mackenthun kürzlich erschien (6). Darin werden u.a. Themen wie “Die Null-Prozent-Illusion“ und “Risiko als Last und Lust“ abgehandelt. Ein Beispiel (S. 75): “Die Definition von Risiko, so wie sie zur Zeit in Deutschland und den meisten Industrienationen abläuft, ist weniger Wissenschaft als Politik... Die Massenmedien vermitteln nicht nur eine Vorstellung davon, was wichtig und richtig ist, sondern beeinflussen ebenso die Ansichten darüber, was die Mehrheit denkt und meint, fordert und verurteilt“ (S. 156). Auch an vielen anderen Stellen im In- und Ausland artikulieren sich zunehmend die Stimmen der Vernunft. Es würde jedoch zu weit führen, hier den Versuch einer vollständigen Darstellung zu machen.

Ursachen und Folgen
Wie in “Die Panikmacher“ (6) dargelegt, geht es hier u. a. um grundsätzliche Unterschiede zwischen Wissenschaftlern und Journalisten, die zwei verschiedene Vorgehensweisen benutzen: “Wissenschaftler suchen allgemeine Gesetze, denken langfristig und vernunftgelenkt, sie versuchen Aussagen so präzise wie möglich abzufassen und haben ihre allgemein anerkannten Methoden... Journalisten denken anders. Sie sind auf Neuigkeiten und Abnormitäten aus, sie suchen die emotionale Betroffenheit, verknüpfen Themen mit Einzelschicksalen, sie denken aus ihrem Alltagsverstand heraus...“ (S. 177-178). Und, etwas spezifischer auf den Strahlenschutz bezogen (S. 206-207): “Es ist erstaunlich, wie diese kleine Gruppe (genannt sind Lengfelder, Schmitz-Feuerhake und Scholz) die Berichterstattung in den Medien dominiert. Mit nur allzu leicht zu durchschauenden Scheinargumenten hält sie über Jahre die Politik und die gesamte deutsche Strahlenforschung in Atem, die die geballte Macht der wissenschaftlichen Welt hinter sich weiß, aber hilflos zusehen muss, wie Medien Politik machen.“

Man sollte natürlich eine generelle Journalistenschelte vermeiden. Es wäre ein Fehler, die hierzulande besonders weit verbreitete Radiophobie (7) ausschließlich wissenschafts- und fortschrittsfeindlichen, ideologisch grün-antinuklear geprägten Publizisten anzulasten, denn andere Meinungsmultiplikatoren wie viele “fortschrittliche“ Pädagogen, Theologen, Politiker und Ärzte haben daran einen erheblichen Anteil. Überdies gibt es manche triviale technische Gründe. Wie es ein Insider einmal beschrieb: Journalisten haben nur höchst selten naturwissenschaftliche Vorkenntnisse, und für gründlichere Recherchen fehlt unter Konkurrenz- und Erfolgsdruck meist einfach die Zeit. Da erhält also beispielsweise ein in der Redaktion gerade “Diensthabender“, der irgendwann einmal ein Orchideenfach studiert hat, die Meldung über einen radiologischen Vorfall. Ihm ist bekannt, dass eine sachkundige Stellungnahme lange dauern kann, weil Fachleute zunächst einmal alle Fakten sammeln und bewerten müssen, und eine offizielle Stellungnahme einer Institution langwierige Abstimmungsmechanismen impliziert. Andererseits ist ein „alternativer Wissenschafter“, der keinen fachlichen Ruf hat und folglich auch keinen verlieren kann, jederzeit sofort mit einer apokalyptischen Aussage zur Hand.

Überdies teilen viele Medien, unter mannigfachen politischen Einflüssen stehend, nicht die chinesische Weisheit, dass man gegen den Strom schwimmen muss, um an die Quelle zu gelangen. Vermutlich das wichtigste Argument ist jedoch der sich zunehmend verschärfende Kampf um Auflagen und Einschaltquoten. Da wird dann gedruckt und gesendet, wovon man annimmt, dass eine Mehrheit es so lesen, hören oder sehen möchte. Man sei im Zeitalter des Infotainment schließlich keine an Fakten orientierte Bildungseinrichtung, und echte oder erfundene Risiken und Katastrophen bestätigten die pessimistische deutsche Gemütslage. Wie sagte Henri Nannen, damals Herausgeber des STERN, dem Verfasser vor vielen Jahren einmal: Wir sind kein wohltätiger Verein und drucken, was die Leute lesen wollen!

Eine solche Redaktionspolitik hinterlässt oft keine bleibenden Schäden, kann aber auch, wie beim Strahlenrisiko, zu einer nicht zu vernachlässigenden Gefahr für eine Volkswirtschaft werden. Die langfristig und intensiv kultivierte Radiophobie führt zu unnötigen Belastungen von zweistelligen Milliardensummen für Wirtschaft und Steuerzahler, z. B. durch erhöhte Energiepreise mit den bekannten Auswirkungen auf Industriestandorte, Arbeitsmarkt und Verbraucher, Klimaproblemen durch höheren Verbrauch fossiler Energiequellen, extreme Kosten beim Rückbau kerntechnischer Anlagen, Wismutsanierung, blockierte Endlager, überteuerte Transporte, unterlassene essentielle strahlenmedizinische Maßnahmen, etc. Da wäre doch wohl ein Paradigmenwechsel in unseren Medien, weg von verkaufsfördernden Horrorstories und hin zu einer sachlichen Information hinsichtlich der tatsächlichen Wirkungen kleiner Strahlendosen  (Schwellenwerte etc.) dringend geboten. Allerdings wird seitens der fachkundigen Strahlenschutz-Fachleute leider viel Geduld und Überzeigungsarbeit erforderlich sein, um bei der überwiegenden Mehrheit der Meinungsmacher einen sachlichen Erkenntnisgewinn zu bewirken, und damit die langfristigen Schäden in öffentlicher Meinung und Politik zu korrigieren.

 Anmerkung: Bei diesem Text handelt es sich um eine Materialsammlung für den Deutschland betreffenden Teil eines Vortrages des Verfassers bei dem 3rd. Internat. Symp. Radiat. Education, Nagasaki, Aug. 22-26, 2004. Mehreren Kollegen danke ich für nützliche Hinweise.

Literatur

  • V. Ivanov, L. Ilyin, A. Gorski, A. Tukov, R. Naumenko, Radiation and Epidemiological Analysis for Solid Cancer Incidence among Nuclear Workers Who Participated in Recovery Operations Following the Accident at the Chernobyl NPP. Int. J. Radiat. Res. 45, 41-44, 2004
  • M. Irion und W. Schüttmann, Das Hormesis-Prinzip – vom biologischen Nutzen radioaktiver Strahlung, RIAS 1, 04.06.1989
  • B. Müller-Ullrich, Medienmärchen – Gesinnungstäter im Journalismus. Blessing Verlag München 1996, ISBN 3-89667-002-8
  • H. Hug, Der tägliche Ökohorror, Verlag Langen-Müller/Herbig, München 1997, ISBN 3-7844-7354-7
  • D. Maxeiner und M. Miersch, Öko-Optimismus, Metropolitan-Verlag Düsseldorf/München 1996, ISBN 3-89623-018-2
  • W. Krämer und G. Mackenthum, Die Panik-Macher, Verlag Piper München/Zürich 2003, ISBN 3-492-23866-1
  • K. Becker, Ursachen, Folgen und Therapie des Radiophobie-Syndroms, Internat. J. Nucl. Power atw 49/3, 177-180, 2004

Die vorstehende Arbeit wurde veröffentlicht in Strahlenschutzpraxis 3/2004, Seite 57 bis 60