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Nukleare Zukunft – anderswo?

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veröffentlicht 11.09.2011

Dr. Wolfang Stoll, Juli 2011

Nukleare Zukunft – anderswo?

  1. Die scheinbar offenen Dimensionen
  2. Die nie ernstlich gestellte Frage
  3. Ein paar Antworten
  4. Die vergebene Chance Woher neue Lösungen kommen werden.

1) Offene Dimensionen

Wir unterstellen : Unfälle geschehen nicht einfach . Sie werden verursacht.

Unser gesamtes Denken ist kausal unterlegt. Das gilt für unsere Rechtsprechung genauso wie für Lohn und Strafe in unseren Religionen. Wir verdrängen, daß Verknüpfungen von Ursache und Wirkung nur das an Gewissheit grenzende Ende einer ganz allgemein nicht immer zwingenden Wahrscheinlichkeitsskala darstellen. Zufälle und deren mehr oder weniger wahrscheinliches Eintreten am anderen, dem ungewissen Ende der Wahrscheinlichkeitsskala kennen wir zwar, aber sie sind streng kausaler Verknüpfung nicht zugänglich. Sie werden bei der hier vorherrschenden Kausalisierungssucht, die für alles eine Ursache finden will, bestenfalls in den Aberglauben verdrängt.

Unfälle mit kausaler Zuordnung sind Herdgeschehen. Der Herd kann groß sein, aber er ist in allen Dimensionen nach Zeit wie Ort eingrenzbar. Er geschieht hier und nicht dort, heute und nicht morgen. Irgendwo gibt es immer auch für alle erkennbaren Auswirkungen Wirkgrenzen. Solange der Herd klein ist im Vergleich zu der bewohnbaren Erdoberfläche, kann Schadwirkung mit kollektiver Hilfe-Leistung durch die Unbetroffenen geheilt werden. Diese Leistung ist auch im Vorfeld für typische Herdgeschehen abgrenzbar und daher versicherbar.

Es gibt sehr große Herde und sehr lange anhaltende Schadwirkungen. Dimensionen in Raum und Zeit werden von uns jedoch nur soweit begriffen und miteinander verglichen, als sie unserer Vorstellungswelt entsprechen. Was über die eigene Lebenszeit hinausgeht, ist ”ewig“, was als Fläche größer ist als das vergleichsweise in den Medien oft benützte Fußballfeld, ist ”überall“. Die Sintflut und die Pest im Mittelalter sind Beispiele.

Die Abwägung, wann eine Dimensionsöffnung ihre begriffliche Endlichkeit überschreitet, ist damit sehr subjektiv. So könnte man z. B. die Abholzung der Mittelmeerküsten vor 2000 Jahren als unumkehrbar und deren erhebliche Klimawirkung daher als ”Ewig“ ansehen, obwohl eine – wenn auch sehr aufwändige -Wiederaufforstung prinzipiell möglich wäre.

Wer organisatorisch-technische Veränderungen verhindern will, braucht daher nur die damit erwarteten größeren Risiken so weit überdehnen, dass es scheinbar weder zeitlich, noch örtlich ein Entrinnen vor der Gefahr gibt. In alternden Gesellschaften, die ihre mangelnde Ausgewogenheit von Chance und Risiko hinter einem besonders strikten Ordnungsrahmen verbergen, sind ausufernde Risikodimensionen, auch wenn sie bereits weit unterhalb der individuellen Gefährdung messbar werden, dann besonders unerträglich, wenn man auf sie nicht handelnd einwirken kann. Die Situation wird verschlimmert, wenn unmittelbare Sinneswahrnehmungen für die Gefährdung fehlen und eine Zuordnung zu eventuellen Spätschäden nur statistisch wahrnehmbar ist.

Dabei ist ionisierende Strahlung, die ohnehin stets von Natur aus auf uns einwirkt, für unsere eigenen Zellen nur ein nachgeordneter unter den vielen Schädigungsmechanismen unserer eigenen Körperzellen. Ein lebenslanger Reparaturprozess wirkt dem entgegen. Das aus Gründen übergroßer Vorsicht im Strahlenschutz immer noch vorherrschende Modell einer linearen Dosis-Wirkungsbeziehung wird daher kurzschlüssig als konstitutiv unterstellt.

Eine mögliche Radionukliddispersion aus Kernkraftunfällen hat daher einen herausragenden Signalcharakter, weil er – wenn auch nur scheinbar – die Dimensionen in Raum und Zeit öffnet und mit der Angst vor unheilbarer Krankheit verbindet.

2) Die Frage lautet: Muss das so sein?

Für eine kollektive Ablehnung einer bestimmten Technik gibt es mehrere historische Bespiele. Drei seien hier dargestellt:

  1. Im 13. Jahrhundert hat sich als Waffe die Armbrust als wirksame Verbesserung im Kampfgeschehen gezeigt. Sie konnte auf Distanz töten, ohne den Schützen ernstlich zu gefährden. Papst Innozenz setzte sie auf den Index, weil es ihm unethisch erschien, dem Gegner im Kampf nahezu ohne eigenes persönliches Risiko gegenüberzutreten. Die Ausbreitung fern- wirkender Waffen hat das aber nicht ernstlich behindert, weil sie eben überlegen waren. Beim Abwurf der Atombombe auf Nagasaki, die Zehntausende Unbeteiligte tötete, hat man diesen ethisch-moralischen Vorwurf der Waffenungleichheit und Fernwirkung kaum mehr erhoben.
  2. Mitte des 19. Jahrhunderts breitete sich mit der aufkommenden Industrialisierung die Dampfmaschine aus. Der jeweils dafür nötige Dampfkessel wurde nicht selten fehlbedient und explodierte, wobei es viele Tote gab. Das führte zur Vorschrift, dass jeder Kessel ein funktionierendes Sicherheitsventil haben müsse, dessen Überwachung dann einem neutralen Kontrollgremium, dem eigens dafür gegründeten TÜV übertragen wurde.
  3. Die Fortsetzung dieser einst allgegenwärtigen Bedrohung erlebten die Menschen dann in spektakulären Eisenbahn- und Schiffsunglücken um die Wende des 20sten Jahrhunderts. Das führte einerseits dazu, dass Romane und Filme diese Ereignisse zum zentralen Memento vor den Gefahren der Technik stilisierten. Das wirkt als Fanal menschlicher Hybris in dem Untergang der Titanic bis heut weiter, führt aber andererseits dazu, dass vor allem die Eisenbahn bis heute das am besten abgesicherte Verkehrssystem wurde, das wir kennen.

Man kann daraus lernen, dass gefahrengeneigte Innovationen sich immer dann durchgesetzt haben, wenn der offenkundige Vorteil groß genug war, um zur kollektiven Gefahrenabwehr einen entsprechenden Aufwand in Zeit, Technik und Erfindungsgeist zu mobilisieren.

Die Kernspaltung liefert eine um das millionenfache über das übliche Feuer hinausgehende Energieverdichtung. Damit ist sie allen Energieerzeugungsarten, bei denen zuerst mühsam über große Flächen unstete Primärenergie eingesammelt werden muss, gewaltig überlegen.

An dieser Tatsache ändern auch die üppigsten Förderprogramme für regenerative Energie nichts Grundlegendes.

Will man die Kernspaltung nutzen, z. B. um in Dampfkesseln Dampf zum Antrieb von Turbinen zu gewinnen, so steht man vor zwei grundsätzlichen Problemen:

  1. Die nukleare Kettenreaktion bedarf schnell wirksamer Regelmechanismen, um nicht außer Kontrolle zu geraten,
  2. Nach Aufhören der Kettenreaktion entsteht weiterhin ein kleiner Teil der Wärme durch die zerfallenden Radionuklide, der abgeführt werden muss.

Beide Probleme können zur Zerstörung der Umhüllung der Kernreaktoren und damit zur unkontrollierten Freisetzung von Radionukliden führen.

Entsprechende Ingenieurtechnische Vorkehrungen machen solche Freisetzungen sehr unwahrscheinlich, aber sie können diese bisher dennoch nicht ganz ausschließen. Sie müssen sogar auch ohne regelnden menschlichen Eingriff funktionieren, wenn z.B. aus Angst die Betreibermannschaft wegläuft.

Man hat daher die Nutzung der Kernspaltung überall dort, wo es keine energieintensive Wirtschaft, bezahlbare Alternativen und eine Gesellschaftsform mit demokratischen Wahlmöglichkeiten gibt, plebiszitär abgelehnt. Nicht grundlos kommt das religionsgleiche Fanal des ”Ny,Tak!“ aus dem eher agrarischen Dänemark. Die Systemfrage, ob es denn nicht auch ohne dieses Freisetzungsrisiko geht, hat man dann nicht mehr ernstlich gestellt. Man verharrt daher, um bei obigem Vergleich zu bleiben, noch im ”Zeitalter der unkontrolliert explodierenden Dampfkessel“.

3) Ein paar Antworten:

Es gibt bisher etwa 10 Fälle, in denen größere Kernreaktoren außer Kontrolle gerieten und in veränderlichem Ausmaß Radionuklide nach außen entließen.

Nur bei zweien dieser Kernreaktoren war der Auslöser der Zerstörung eine so genannte „Prompte“ Überkritikalität, bei der die Kernspaltung, wenn auch nur sehr kurzzeitig nicht mehr durch eine kontrollierte Unterberechung der Kettenreaktion gebremst werden konnte, sondern erst nach Zerstörung der Reaktorgeometrie wegen Volumsvergrößerung aufhörte.

Der erste Unfall (SL-1, Idaho, Jan 1961) entstand in einem kleinen Reaktor mit hoch angereichertem Uran, in dem einige Neutronenabsorber unerkannt abrosteten – ein Vorfall, der sich auf einen Reaktor bezieht, den es als Kernkraftwerkstyp nicht gibt. Der zweite war Block 4 im Kraftwerk Tschernobyl, wo bekanntlich ein im Westen nicht zulässiger, grafitmoderierter Reaktor 1986 durch einen groben Bedienungsfehler kurzzeitig überkritisch wurde.

In allen anderen bekannten Fällen führten erst physikalische oder chemische Reaktionen in Folge von Überhitzung, die ihrerseits durch die Nachwärme entstand, zur Zerstörung und Freisetzung . Im Windscale-reaktor entstand 1957 die Überhitzung als Folge des sog. Wignereffekts, der spontanen Freisetzung einer im Grafit gestauten Wärmemenge, im ersten Schnellen Reaktor in Chicago durch eine mechanische Ausdehung von Grafit, in Harrisburg (1979) durch eine ausgefallene Kühlung, als deren Folge ein Teil des Reaktorkernes schmolz, In Schevchenko (Russland) und im Reaktor Monju (Japan) durch eine chemische Reaktion zwischen Kühlwasser und Natrium, während in den Reaktoren von Fukushima eine Wasserstoffbildung an überhitztem Zirkon und eine nachfolgende Knallgasexplosion die Zerstörungen bewirkte.

Es ist überaus bezeichnend, dass in Harrisburg, wo trotz der Kernschmelze keine chemische Reaktion zwischen Zirkon und Wasser auftrat, keine wesentliche Menge an Radioaktivität freigesetzt wurde, da auch kein wesentlicher die Dispersion antreibender Gasdruck entstand.

4) Die vergebene Chance:

Daraus lassen sich ein paar einfache Regeln ableiten:

  1. Wasser sollte zugleich als Kühlmittel und Moderator dienen, damit bei Kühlmittelverlust die Kettenreaktion sofort endet.
  2. Systembedingte chemische Reaktionen als Folge von Überhitzung sollten keinen Gasdruck aufbauen können
  3. Durch Nachwärme ausgelöstes Kernschmelzen sollten nicht nur durch mehrfache Kühlsystem unwahrscheinlich gemacht, sondern noch zusätzlich durch eine keramische Wanne unterhalb des Reaktors aufgefangen und unterkritisch gehalten werden. (Beispiel: Olokilouto in Finnland, Flamanville-3 in Frankreich)
  4. Das Reaktorgebäude, das den Stahlduckbehälter umschießt, sollte gasdicht ausgeführt und nur über entsprechende Filter entlüftbar sein

Mit diesen Vorkehrungen könnte ein Kernkraftwerk bei Ausfall aller mechanisch -elektrischen Sicherheitssysteme zwar immer noch zerstört werden, ohne dass es allerdings zu gefährlichen Freisetzungen in die Umgebung käme.

5) Woher neue Lösungen kommen werden:

Es ist nicht zu erwarten, dass die Menschheit dauerhaft auf die Kernenergie verzichtet. Vielmehr hat man aus den bisherigen Unfällen gelernt, dass alle überhaupt denkbaren Störfälle in ihrer Freisetzungswirkung auf das Rektorgebäude beschränkt bleiben müssen, wenn die Kernkraftwerke in bewohntem Umfeld stehen.

Das setzt den Ausschluss aller denkbaren chemischen Folgereaktionen voraus. Daher müsste z. B. wie auch bei den Schiffsreaktoren das Zircaloy-Hüllrohr durch Stahlhüllrohre ersetzt werden und das Auffangen eines eventuell geschmolzenen Reaktorkernes in einer keramischen Wanne müsste bei kommenden Reaktoren abgesichert sein. Die bei Kernschmelzen freigesetzten Spaltgase müssten durch entsprechend stabile äußere Kernumhüllungen zurückgehalten werden. All das ist technisch möglich und auch nicht prohibitiv teuer.

Die maximal entstehenden Schäden wären bei solchen ”Weglauf-szenarien“ dann zwar immer noch groß, aber eingrenzbar und damit versicherbar.

Es entbehrt nicht der Tragik, dass diese Technik der Absicherung mit Störfallfolgen, die auf das Reaktorgebäude beschränkt sind, ausgerechnet erstmalig in Deutschland unter dem Eindruck des Unfalles in Harrisburg Ende der 80er Jahre in dem Schnellen Brüter (SNR 300) in Kalkar verwirklicht wurde, der aber nie in Betrieb ging und heute zum Vergnügungspark abgewrackt ist.

Fukushima wird auf die neu zu bauenden Kernkraftwerke nicht ohne Folgen für die Sicherheitsausrüstung bleiben. Am ehesten werden die zukünftig in der Nähe von Bevölkerungszentren zu errichtenden Kernkraftwerke in China oder Indien einige oder alle der über die redundanten und diversitären Notkühlsysteme hinaus gehenden, etwas verteuernden Zusatzerfordernisse erfüllen müssen. Von dort können wir dann später die entschärfte Technik zurückkaufen.

Dr. Wolfgang Stoll