|
Home > Themen > Leserbriefe > Leserbrief Kinderkrebsstudie
Leserbrief Kinderkrebsstudie von Dr. Odo Götzmann, Philippsburg, 2008 01 27 an die Zeitschrift International Journal of Cancer
Das Deutsche Kinderkrebsregister (DKKR) erstellte im Auftrag des Bundesamtes für Strahlenschutz, finanziert vom Bundesministerium für Umwelt, eine Fall-Kontroll-Studie zur Untersuchung der Ursachen von Krebsfällen bei Kindern unter fünf Jahren in der Zeit vom 1. Januar 1980 bis zum 31. Dezember 2003 im Umkreis von 16 Kernkraftwerken (KKW). Insgesamt wurden 1592 Fälle mit 4735 Kontrollen behandelt. Obwohl das Untersuchungsgebiet sich über größere Entfernungen von den Kraftwerken erstreckte, wurde dem Nahbereich bis zu 5 km die besondere Aufmerksamkeit zu teil. In dieser 5-km Zone wurden in den 24 Jahren der Untersuchungszeit an Kindern bis zu 5 Jahren 77 Krebsfälle, darunter 37 Leukämien diagnostiziert. Im selben Zeitraum wurden bei Kindern gleichen Alters in Deutschland insgesamt 13373 Krebserkrankungen, darunter 5893 Leukämiefälle gemeldet.
Die Arbeitshypothese der Forscher lautete zu Studienbeginn: “Es besteht kein Zusammenhang zwischen der Nähe der Wohnung zu einem Kernkraftwerk und dem Risiko, bis zum 5. Lebensjahr an Krebs zu erkranken.“ Das Design der Studie ebenso wie die Arbeitshypothese wurde lt. Prof. Maria Blettner (DKKR) von einer im Wesentlichen aus Atomkraftgegnern bestehenden Expertengruppe aufgestellt und ständig überwacht. Insofern kann man den Wortlaut der Arbeitshypothese in den Bereich Orwellscher Sprachregelung einordnen.
Zum Ergebnis steht in der Studie: “Basierend auf den in der Studie gewählten Modellannahmen wären 29 der 1980-2003 in Deutschland insgesamt aufgetretenen 13373 Krebserkrankungen dem Wohnen innerhalb der 5-km-Zone um ein Kernkraftwerk zuzuschreiben, dies wären 1,2 Fälle pro Jahr. Auf die Untergruppe der Leukämien bezogen wären das 20 der 5893 Leukämieerkrankungen bei Kindern unter fünf Jahren in ganz Deutschland in der betreffenden Zeit und damit 0,8 Fälle pro Jahr. Der für die gesamten Krebserkrankungen beobachtete Effekt kommt im Wesentlichen durch die Erhöhung des Risikos bei der relativ großen Gruppe der Leukämien zustande.“ Darüber hinaus stellte die Studie fest, dass Fälle von Krebs, besonders Leukämie, mit der Nähe zu den KKW zunehmen. Die Arbeitshypothese wurde selbstverständlich widerlegt.
Die 29 Krebserkrankungen und die 20 Leukämiefälle, die die Studie dem Wohnen in dem 5-km Umkreis von Kernkraftwerken zuschreibt, werden auch als “zusätzliche Krebserkrankungen“ bezeichnet. Über die Fälle, die als Differenz gegenüber den diagnostizierten Fällen übrig bleiben, nämlich 48 von allen Krebserkrankungen, darunter 17 Leukämien, gibt die Studie keine Auskunft. Sie werden nicht einmal als Gruppe erwähnt. Das tat dann aber der Bundesumweltminister in einer Pressemitteilung (BUM Nr. 344/07/08.12.2007). Dort heißt es: „Hier sind zwischen 1980 und 2003 77 Kinder an Krebs, davon 37 an Leukämie erkrankt. Im statistischen Durchschnitt wären 48 Krebs- bzw. 17 Leukämiefälle zu erwarten gewesen.“ Er hat also die übrig gebliebenen “48 Krebs- bzw. 17 Leukämiefälle“ eingruppiert in die “zu erwartenden Fälle“ und dafür einen “statistischen Durchschnitt“ herangezogen. Diese Formulierung wurde von anderen Behörden und den Medien übernommen. Es ist jedoch seltsam, dass weder dem Minister noch allen anderen, die die Formel mit dem “statistischen Durchschnitt“ oder dem “Bundesdurchschnitt“ übernahmen, aufgefallen ist, dass die Autoren der Studie sich vier Jahre unnötige Arbeit aufgebürdet haben, um herauszufinden, dass es in der 5-km Zone 29 zusätzliche Krebserkrankungen und darunter 20 Leukämien gab. Sie hätten einfach die statistisch ermittelten “zu erwartenden Fälle“ von den diagnostizierten Fällen abziehen müssen und wären sofort zum gleichen Ergebnis gekommen. Dem Minister war offensichtlich bewusst, dass ohne eine Angabe über die natürlich zu erwartenden Fällen die von den KKW ausgelösten Fälle sich schlecht verkaufen lassen. Er hat deshalb die namenlosen, übrig gebliebenen Fälle der Studie einfach als die „statistisch zu erwartenden Fällen“ deklariert. Doch die Studie kennt keinen „statistischen Durchschnitt“ oder „Bundesdurchschnitt“. Möglicherweise gibt es einen. Er wird aber in der Studie nicht genannt oder zum Vergleich herangezogen. Auch vom Bundesministerium oder einer nachgeordneten Behörde werden keine näheren Angaben zu diesem statistischen Durchschnitt gemacht.
Einen Hinweis auf einen statistischen Durchschnitt geben die in der Studie für den Untersuchungszeitraum genannten 13373 Krebserkrankungen und die darunter sich befindenden 5893 Leukämien für Deutschland. Diese Zahlen ergeben ein Verhältnis von 44% Leukämien unter den Krebsfällen oder ein Leukämiefall bei etwa zwei Krebserkrankungen. Es fällt auf, dass in der Gruppe der vom Bundesumweltminister so bezeichneten “statistisch zu erwartenden Fällen“, im Vergleich zum übrigen Deutschland relativ wenige Leukämien sind: Nur 35% Leukämien unter den Krebserkrankungen oder eine Leukämieerkrankung unter fast drei Krebsfällen. Sie entsprechen also nicht dem deutschen Durchschnitt und stimmen mit der Wirklichkeit daher nicht überein. Da beide Gruppen, die “zu erwartenden Fälle“ und die “zusätzlichen Fälle“ über die echt diagnostizierten Fälle miteinander gekoppelt sind, entsprechen dem zufolge auch die “zusätzlichen Fälle“ nicht der Realität. Die Aussage in der Studie über das Wohnen innerhalb der 5-km Zone um ein KKW ist also nicht richtig. Es dürfte keinen Zweifel darüber geben, dass die für Deutschland bei Kindern unter 5 Jahren diagnostizierten Krebsfälle auch in ihrem Verhältnis Leukämie/Gesamtkrebsfälle einen Durchschnitt repräsentieren. Die in den 5-km Zonen festgestellten Fälle verfehlen mit 48% Leukämien diesen Durchschnitt nur knapp wegen drei Leukämien zuviel, die man einem Cluster zuschreiben kann.
Neben der Tatsache, dass die von der Studie den KKW zugewiesenen Krebsfällen nicht mit der Realität in Einklang gebracht werden können, gibt es noch weitere Punkte, die zu kritisieren sind:
- Es ist bekannt, dass es um das KKW Krümmel ein Leukämiecluster gibt. In der Studie wurden für die 5-km Zone um Krümmel acht Krebserkrankungen berücksichtigt, davon überwiegend Leukämien. Nehmen wir von den 77 diagnostizierten Fällen die 8 Krümmel-Fälle weg und von den 37 Leukämien 6 eventuelle Clusterleukämien, haben wir es mit 31 Leukämiefällen unter 69 Krebsfällen in den 5-km Zonen um 15 KKW zu tun. Betrachten wir dann noch einen Leukämiefall als “zusätzlichen Fall“ erhalten wir für die verbleibenden 30 Leukämien unter 68 Krebsfällen ein Verhältnis, das genau dem für Deutschland für natürliche Krebserkrankungen entspricht. Also ein, bestenfalls zwei zusätzliche Leukämiefälle können dem Wohnen in den 5-km Zonen um die 15 KKW in 24 Jahren zugeschrieben werden. Die obigen Zahlen für die 15 KKW bedeuten auch, dass im Schnitt in jedem von den 15 KKW-Regionen zwei Leukämiefälle unter viereinhalb Krebsfällen in 24 Jahren aufgetreten sind. Diese Situation wurde in früheren Studien als nicht verschieden von anderen Regionen in Deutschland betrachtet. Die Fall-Kontroll-Studie stellt jedoch eine mehr als zweifache Erhöhung der Leukämiefälle aufgrund der KKW fest. Nach der Studie hätte es also nur einen Leukämiefall im 5-km Umkreis von jedem der 15 KKW in 24 Jahren geben dürfen. Um Krümmel dagegen hatten wir die doppelte Anzahl von Krebserkrankungen verglichen mit den 15 anderen KKW. Streng wissenschaftlich hätte Krümmel in der Studie nicht berücksichtigt werden dürfen, da von vornherein klar war, dass dieser Standort nicht einem normalen Standort entspricht, dass damit das Ergebnis also verzerrt wird. Ohne Krümmel hätte die Studie kein zusätzliches Risiko für Krebs- oder Leukämieerkrankungen in den 5-km Zonen ergeben dürfen.
- Die Feststellung der Studie, dass Krebsfälle, besonders Leukämien, mit der Nähe zu den KKW zunehmen, ist in Wirklichkeit kein Ergebnis der Studie, sondern eine in das Modell eingebaute Bedingung. Der entfernungsabhängige Einfluss der Strahlendosis wurde durch eine Hyperbelfunktion (1/Entfernung) dargestellt. Die damit geschätzten Risikokoeffizienten mussten zu einem höheren Risiko in der Nähe und kleineren Risiken weiter weg führen. Es ist deshalb unter diesen Modellbedingungen wenig erstaunlich, dass die Rechnungen ein hohes Risiko für Reaktornähe liefern, aber auch nur dort und keines in weiterer Entfernung.
- Für das „matching ratio“ von Fällen zu den nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Kontrollen war ein Verhältnis von 1 : 3 vorgegeben, das heißt, zu einem Fall sollten drei Kontrollen gesucht werden. Es ist schon seltsam, dass ausgerechnet in dem inneren, dem kritischen 5-km Bereich den 77 Fällen nur 148 Kontrollen gegenüber standen, also hier ein „matching ratio“ von nicht ganz 1 : 2 gewählt wurde. Spielt das „matching ratio” eine derart geringe Rolle, dass es egal ist, ob nun 1/2 oder 1/3 gewählt wird?
- Offensichtlich ist viel Willkür verbunden mit einer Fall-Kontroll-Studie. Sie hat mehr gemein mit einem Würfelspiel als mit exakter Wissenschaft. Zusammenfassend können wir feststellen, dass die Fall-Kontroll-Rechnungen die Krebsverhältnisse in der Nachbarschaft von Kernkraftwerken nicht korrekt wiedergeben. Das Risiko für Kinder in der 5-km Zone wird falsch angegeben. Viel Aufregung über ein Würfelspiel.
Anmerkung: Im International Journal of Cancer, wurde ein Teil der Studie veröffentlicht.
|
|